Schluss mit Nachhaltigkeit?
Bis vor Kurzem kam in jedem Satz von Anlageberatern „ESG“ vor, doch jetzt scheint damit Schluss zu sein. Auch Hersteller von Konsumartikeln winken ab: Nur sechs bis elf Prozent der Verbraucher sind wirklich überzeugt von Nachhaltigkeit. Der Rest shoppt situativ. Selbst Teile der Politik machen den U-turn: EU- Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen etwa geht beim Klimaschutz neuerdings mit offenen Armen auf die Industrie zu. Growth statt Green lautet ihr neues Mantra. Nachhaltigkeit ist ein Modebegriff geworden – und wie bei allen Moden kommen und gehen Trends. Ist Nachhaltigkeit (gerade ein bisschen) out?
Von Dr. Elmer Lenzen
Heutzutage ist gefühlt irgendwie alles nachhaltig. Idealerweise „green, fair und vegan“ wie eine Sneaker-Werbung verspricht, an der ich mit den Hunden täglich vorbeikomme. Sind wir also auf einem guten Weg? Mitnichten! Auch wenn bei vielen die Bereitschaft für das Thema weiterhin hoch ist, so zeigen die Umsatzzahlen in zahlreichen Branchen nach unten. Wie konnte es dazu kommen? Ist das alles nur äußeren Einflüssen geschuldet? Oder gibt es vielleicht sogar den einen oder anderen Denkfehler im Konzept?
Nachhaltiger Konsum steht unter Druck
Der jüngste Knall kam aus Düsseldorf: Der Reinigungskonzern Henkel erklärte jüngst, dass die Öko-Marke „Love Nature“ aufgrund mangelnden Erfolgs eingestellt wird. Vor vier Jahren zum Start der Marke klang das noch anders: „Wir wollen gemeinsam etwas bewegen und wir wollen, dass es sich gut anfühlt, bewusst zu leben.“ Mit zertifizierten Öko-Reinigern wollte Henkel, bekannt für Klassiker wie „Persil“, „Somat“ und „Pril“, hauptsächlich den Nischenmarktführer „Frosch“ angreifen. Das Vorhaben scheiterte jedoch deutlich. „Love Nature“ erreichte in Deutschland nur einen Marktanteil von mageren 0,35 Prozent berichtet die WElT. Die Vollbremsung bei Henkel ist keine Ausnahme: Viele Konsumgüterkonzerne orientieren sich gerade um – weg von speziellen Öko-Marken hin zu mehr Nachhaltigkeit im gesamten Sortiment – wenn auch mit geringeren Ansprüchen. Für Großkonzerne wie Henkel sind die Ökonischen zu klein und oft fehlt es ihnen an Glaubwürdigkeit beim Kunden.
Nachhaltiger Konsum in Deutschland wird von den aktuellen gesellschaftlichen und ökonomischen Krisen beeinflusst. Zu diesem Ergebnis kommt eine repräsentative Umfrage der Verbraucherplattform Utopia.
Die Umfrage zeigt, wie gespalten Deutschland auch in puncto Nachhaltigkeit und Klimaschutz ist, und legt große Gegensätze in den Einstellungen offen. So zum Beispiel bei der Frage, ob es sich bei Berichten über den Klimawandel „oft um übertriebene Panikmache“ handelt: 43 Prozent der Bevölkerung sind dieser Meinung, in einigen Gruppen steigt der Wert auf bis zu 74 Prozent. Sehr weit auseinander gehen die Meinungen auch, wenn es um die Rolle von Staat und Politik beim Klimaschutz geht. Dagegen erwartet die Mehrheit mehr Engagement von Unternehmen. Gegenüber Green Claims zeigt sie sich jedoch zwiegespalten zwischen Nutzwert und Verwirrung.
Seit der ersten Befragung aus dem Jahr 2017 hat Nachhaltigkeit stetig an Bedeutung gewonnen. Selbst die Corona-Pandemie hat sich trotz immenser persönlicher und wirtschaftlicher Unsicherheiten wie ein Katalysator auf den nachhaltigen Konsum ausgewirkt. Die aktuellen Krisen haben jedoch den gegenteiligen Effekt: Nachhaltigkeit und nachhaltiger Konsum geraten unter Druck. Das Problembewusstsein für den Klimawandel nimmt etwas ab („Klimamüdigkeit“), wirtschaftliche Sorgen werden größer und die Preissensibilität wächst wegen der Inflation. 86 Prozent der Deutschen suchen beim Einkaufen „vor allem nach günstigen Angeboten“, und nur noch 47 Prozent sind bereit, „einen Mehraufwand auf sich zu nehmen, um nachhaltige Produkte zu kaufen“ (elf Prozent weniger als vor zwei Jahren).
Spiegelbild für Spaltung der Gesellschaft
Die Gegensätze in den Einstellungen zu Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Umwelt sind sehr ausgeprägt. Die Gesellschaft ist auch bei diesen Themen polarisiert. Eklatant sind die Unterschiede zwischen den drei nachhaltigkeitsaffineren und den drei weniger nachhaltigkeitsaffinen Typen. So blicken 97 Prozent der Konsequenten wegen des Klimawandels sorgenvoll auf die Zukunft des Planeten, bei den Ablehnenden sind es nur 17 Prozent. Große Unterschiede in den nachhaltigkeitsbezogenen Einstellungen gibt es aber auch zwischen Jung und Alt, Stadt und Land, West- und Ost-Bundesländern sowie abhängig von Bildungsgrad oder Einkommen. Während Jung und Alt beim nachhaltigen Konsum noch viele Gemeinsamkeiten aufweisen, sind sie bei klimapolitischen Fragestellungen oft unterschiedlicher Meinung.
Menschen mit hoher Nachhaltigkeitsaffinität erwarten von der Politik und dem Staat klare Regelungen für mehr Klimaschutz und Nachhaltigkeit, auch wenn dies ihre persönliche Entscheidungsfreiheit einschränkt. Weniger affine Personen lehnen staatliche Eingriffe eher ab. Jüngere Befragte sind deutlich mehr pro Regulierung als ältere. In den Ost-Bundesländern sind wesentlich mehr Menschen gegen Reglementierung, im Westen sind sie tendenziell eher dafür. Und je höher der Bildungsstand, desto positiver die Einstellung gegenüber staatlicher Einflussnahme.
Echt nachhaltige Kunden? Eine Minderheit
Herzstück der Utopia-Studie ist eine detaillierte „Typologie des nachhaltigen Konsums“ unter Deutschlands Verbraucherinnen und Verbrauchern: 44 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben demnach eine Affinität zu nachhaltigem Konsum. Allerdings ist das Preisbewusstsein beim Kauf nachhaltiger Produkte deutlich höher als bei der vorhergehenden Befragung aus dem Jahr 2022.
Nur elf Prozent der Gesamtbevölkerung sind konsequente Green Shopper. Sie haben ein hohes Problembewusstsein und sind bereit, für Nachhaltigkeit und Klimaschutz auch Mehraufwand und höhere Preise in Kauf zu nehmen. Die anderen Kundentypen sind bedächtige und Gelegenheitskäufer oder sogar gleichgültig bis ablehnend. Zu einem noch geringeren Prozentsatz kommt der Handelsexperte Stephan Rüschen. Er ist Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Heilbronn und hat eine Studie zum Verbraucherverhalten im Lebensmitteleinzelhandel erstellt. Demnach machen die sogenannten „Nachhaltigkeitsverweigerer“ rund 40 Prozent der Bevölkerung aus, die Überzeugten hingegen nur 6,5 Prozent. „Mehr als die Hälfte der Menschen ist nicht bereit, für Nachhaltigkeit auf Wohlstand zu verzichten“, so sein nüchternes Fazit gegenüber dem Spiegel. „Nach Jahren des Booms können oder wollen sich jetzt weniger Verbraucher Nachhaltigkeit leisten. Das hängt auch mit dem Ukrainekrieg zusammen.“
Handlungsempfehlungen
Angesichts von Inflation und gestiegener Preissensibilität der Konsumenten stehen Unternehmen und Politik vor der Herausforderung, den weniger nachhaltigkeitsaffinen, aber nicht ablehnenden Konsumenten Angebote zu machen, um zu verhindern, dass sie sich weiter abwenden. Bei ihnen scheitert die Entscheidung für Nachhaltigkeit nicht am Wollen, sondern vor allem am (gefühlten) Es-sich-nicht-mehr-leisten-Können. Günstigere Preise für nachhaltige Alternativen und eine sozialverträgliche Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen sind bis auf Weiteres die wichtigsten Hebel für eine breite gesellschaftliche Akzeptanz von Nachhaltigkeit und Klimaschutz.
Hinzu kommt für viele das Gefühl, während der Corona-Pandemie etwas verpasst zu haben, was es jetzt nachzuholen gilt. Handelsexperte Rüschen im Spiegel: „Der Urlaub in der Ferne scheint uns immer noch sehr wichtig zu sein. Reisen bedeutet Wohlstand. Und mehr als die Hälfte der Menschen ist nicht bereit, für Nachhaltigkeit auf Wohlstand zu verzichten.“
Auch wenn das Nachhaltigkeitsthema in der öffentlichen Debatte ein Stück weit zurückgedrängt wird: Problembewusstsein und ein Informationsbedürfnis für Nachhaltigkeitsthemen sind bei fast allen Konsumenten vorhanden. Sie wünschen sich von Unternehmen mehr Nachhaltigkeitskommunikation, was Herstellern und Handel große Kommunikationschancen bietet. Der Teil der Bevölkerung, der für Nachhaltigkeitsthemen nicht zugänglich ist, ist weiterhin sehr gering.
Glaubwürdigkeit und Nachhaltigkeit müssen zusammen betrachtet werden
Wer als Unternehmen das Vertrauen in die Marke stärkt, erhöht die Chancen, dass auch seinen „grünen Werbebotschaften“ vertraut wird. Nochmal Stephan Rüschen dazu: „Vielleicht wird sich das Tempo der Transformation verlangsamen, aber die Händler haben das Thema Nachhaltigkeit zu ihrem Purpose gemacht und somit zu einem integralen Bestandteil der Unternehmensstrategie. Nachhaltiges Wirtschaften bedeutet eben nicht nur, das umzusetzen, was die Verbraucher erwarten, sondern auch als Unternehmen eigenständig Verantwortung zu übernehmen.“