Warum wechselt ein bundesweit bekannter Vordenker für Nachhaltigkeitsthemen in die Politik? Um Transformation zu gestalten und nicht nur darüber zu reden, sagt Prof. Dr. Uwe Schneidewind, Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal. Allerdings sind die Zeiten dafür schwierig: die Stadtkassen sind klamm und Gegenwind kommt von vielen Seiten

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es extrem wichtig ist, das mit positiven Energien anzugehen. Je mehr man sich auf Gegenpositionen konzentriert, desto mehr bekräftigt man sie.

UmweltDialog: Wenn wir in der Geschichte weit bis Rio 1992 zurückgehen, war die Lokale Agenda 21 seinerzeit eines der Kernstücke. Sprich: Auf kommunaler Ebene fing alles an. Heute denken wir eher in Weltdimensionen. Haber wir manchmal das Lokale aus den Augen verloren?  

Prof. Dr. Uwe Schneidewind: Schon 1992 waren die globale und lokale Ebene eng miteinander verwoben. Für mich macht den Charme der lokalen Agenda 21-Prozesse aus, dass man wirklich den Eindruck hatte, Teil einer globalen Bewegung zu sein, und diese Verbindung ist immer noch sehr lebendig, wie man ja am Beispiel der SDG-Nutzung sieht. Ich war zum Beispiel gestern auf einem Unternehmerforum, wo erfolgreiche Start-ups hier aus der Region vorgestellt wurden, und da war ein Unternehmen, dass seine Produktstrategie wie selbstverständlich mit vier relevanten SDGs verknüpft.

Richtig ist aber auch, dass wir bei Nachhaltigkeitsthemen aktuell einen generellen Gegenwind erleben, der weit von der Aufbruchsstimmung entfernt ist, die wir Anfang der 90er Jahre hatten, wo es in jeder Stadt einen lokalen Agenda-Prozess gab und alle das Gefühl hatten: „So, jetzt bringen wir diese globalen Themen auch hier vor Ort so richtig in Schwung!“ Die Intensität hat im Vergleich zu damals ein ganzes Stück nachgelassen.


Vor allem die UN-Entwicklungsziele (SDGs) sind eine häufig genutzte Blaupause auf kommunaler Ebene. Wie sieht die Nachhaltigkeitsagenda der Stadt Wuppertal aus?

Schneidewind: Der Prozess orientiert sich am Muster anderer Städte: Wir holen unterschiedliche Bürgerinnen und Bürger zusammen, entwickeln Zielvorstellungen und am Ende auch einen detaillierten Maßnahmenplan. Auf der Maßnahmenebene merkt man dann schon, dass es lokalpolitisch sehr herausfordernd wird, weil während der Beteiligungsprozesse Politik oft nicht zuverlässig mit dabei ist.

Unsere Wuppertaler Nachhaltigkeitsstrategie macht insbesondere die sozialen Pole der SDGs stark, weil wir eine Stadt mit vielen sozialen Herausforderungen sind. Sie ist damit ein Stück komplementär zu unserer Klimastrategie. Das jetzt zu einem konsistenten Ganzen zu formen ist eine Herausforderung.

Wenn du grüner Oberbürgermeister ohne eigene Mehrheit und dann auch noch ein Professor bist, dann stehen deine Konzeptvorschläge schnell mal unter Generalverdacht. Von daher bespiele ich viele Nachhaltigkeitsthemen als Oberbürgermeister nicht von vorne und direkt, weil ich einfach Sorge habe um Reaktanzen, die das auslöst, sondern unterstütze Initiativen in der Stadt, die genau solche Ideen einbringen. So lässt sich leichter eine breitere Unterstützung von Konzepten erreichen.


Es gibt heute -zig weitere Themen auf Ihrer Agenda: Miete, Migration, Personalmangel an allen Ecken und Enden, um nur einige zu nennen. Bleibt da überhaupt genug Zeit, Geld und Personal für Nachhaltigkeitsthemen oder muss das hinten anstehen?

Schneidewind: Es gibt viele Konfliktbeziehungen, insbesondere für eine sehr überschuldete Kommune wie Wuppertal. Wir schauen da schon neidvoll auf andere Städte, die einfach mal 40 bis 50 Millionen Euro im Jahr für ihre Klimastrategie einplanen, um etwa die eigenen Gebäude fit zu machen. Das ist für uns unmöglich. Selbst das Nötigste vom Schul- bis zum Straßenbau überhaupt hinbekommen, ist schwer, und da bleiben kaum Freiräume für Nicht-Pflichtaufgaben. Darum gibt es ja auch eine Diskussion, ob man Klimaschutz nicht auch als Pflichtaufgabe der Kommunen erklären sollte. Dann würden sich andere Refinanzierungsverpflichtungen ergeben, auch von Seiten des Landes und des Bundes.

Eine zweite Konfliktbeziehung ergibt sich aus der Komplexität der Themen. Wenn man schwierige strategische Themen vorantreiben will, braucht das Zeit und mentale Energie. Wenn eine Vielzahl von tagespolitischen Themen dominiert, bleibt für strategisches Handeln wenig Raum. Darum ist politisches Handeln oft reaktiv. Fairerweise muss man sagen, dass es gerade deswegen oft erfolgreich ist, weil auch die Erwartung von Bürgerinnen und Bürgern ja zuallererst ist, dass die täglichen Probleme und Krisen bewältigt werden.

Wird die zunehmende Spaltung der Gesellschaft auch in den Einstellungen zu den Themen Nachhaltigkeit, Klimawandel und Umwelt sichtbar?

Schneidewind: Ja, wir spüren das insbesondere beim Verkehrsthema. Da ist es den sogenannten „Spaltungsunternehmern“ sehr erfolgreich gelungen, eine Polarisierung der Gesellschaft herbeizureden. Nach dem Motto: „Wir hier unten und die da oben auf der anderen Seite, die uns mit ihren ökologischen Versprechungen zwangsbeglücken wollen und Klimapanik machen.“ Insbesondere das Verkehrsthema und der vermeintliche Kampf gegen das Auto hat eine rhetorische Rahmung etabliert, die nicht nur von populistischen Parteien bedient wird, sondern zum Teil bis ins demokratische Spektrum hineinreicht. Das Ganze geht zusätzlich mit einer Emotionalisierung einher. Wir können einfach nur hoffen, dass ein Stück mehr Ruhe hineinkommt, weil alle im Grunde wissen, dass wir den Transformationsweg weiter gehen müssen.

Sowohl von rechter als auch linker Seite gibt es dieses Narrativ, dass wir jetzt sofort handeln müssen, sonst sei es zu spät und es gehe wahlweise die Welt oder das Abendland unter. Diese Untergangsszenarien funktionieren im politischen Diskurs erkennbar nicht. Aber auch der Appell an Gewissen und Vernunft klappt nicht. Was funktioniert dann?

Schneidewind: Der Mensch ist ein unwahrscheinlich anpassungsfähiges Wesen, und wir gewöhnen uns sehr schnell auch an veränderte Zustände und stellen unsere Zufriedenheitslevel dann darauf ein. Das funktioniert in die negative Richtung, indem wir immer bequemer werden – wir erwarten, dass es in der Wohnung immer warm ist oder man zu seinem Auto nicht mehr als 20 Meter laufen darf. Daran sieht man, an welches Komfortniveau wir uns gewöhnt haben. Aber es funktioniert auch positiv, wie wir in Krisensituationen gemerkt haben. Die Kunst ist, solche Erfahrungsräume zu nutzen, indem man dann erlebt, dass Veränderung gar nicht so schlimm ist. Wir sehen das am Beispiel autofreier Städte großmaßstäblich in Paris oder Barcelona: Wenn die Leute da hinfahren, sagen sie „Wow, ist das schön.“ Solche Erfahrungen einer anderen Wirklichkeit bringen uns weiter. Solange wir Veränderung nur abstrakt diskutieren, also entweder über Bedrohungsszenarien oder über Appelle an den guten Willen, wird sich die Welt nicht verändern. Wir brauchen die konkrete Erfahrung und Anschauung vor Ort – nur das führt dann zum Spill-over. Das war übrigens auch meine Motivation, warum ich vom abstrakten Bücher schreiben als Professor zum konkreten Gestalten vor Ort als Oberbürgermeister gewechselt bin.


Sie waren lange Jahre Leiter des Wuppertal Instituts. Das hat einen sehr guten Ruf als wissenschaftliche Denkfabrik. Bleibt Ihnen im politischen Tagesgeschäft überhaupt genügend Zeit zum Nachdenken, oder reagiert man eigentlich immer nur oder arbeitet endlose Tagesordnungen ab?

Schneidewind: Das ist schon sehr intensiv. Ich habe an einem Tag manchmal zehn bis 15 Termine, oft im Halbstunden-Takt. Da bleibt relativ wenig Zeit für Reflexion. Deshalb muss man sich immer mal wieder auch Freiräume schaffen. Bei mir läuft das darüber, dass ich schaue, regelmäßig mal rauszukommen und mich überregional auszutauschen. Alleine schon die zwei, drei Stunden im Zug sind dann ein Geschenk, weil dann keine Videokonferenz stattfinden kann. Oder eben auch an einem Wochenende sehr konsequent zu sagen, dass man keine repräsentativen Termine annimmt, sondern sich Zeit zur Reflektion zu nehmen. Das ist für mich als Mensch, der reflexiv sozialisiert wurde, auch psychologisch wichtig, sonst geht man auch mental vor die Hunde. Es gibt sicher andere Menschen, die haben immer im reinen Handlungsmodus gelebt, und die kommen damit leichter zurecht. Aber für jemand, der in das Amt reingegangen ist, weil er einen Veränderungsanspruch hat, ist es absolut notwendig, sich Freiräume zu verschaffen, um Strategisches voranzutreiben.


Wir sprachen viel von Gegenwind und Reaktanzen. Nachhaltigkeit ist in der Diskussion derzeit oft in der Defensive. Wie kriegen wir das Thema wieder positiver und präsenter in die Diskussion?

Schneidewind: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es extrem wichtig ist, das mit positiven Energien anzugehen. Je mehr man sich auf Gegenpositionen konzentriert, desto mehr bekräftigt man sie. Man hat das im Positiven bei den großen Demonstrationen nach den Correctiv-Enthüllungen zu den „Remigrationsplänen“ gemerkt. Das Gefühl in einer starken Gemeinschaft unterwegs zu sein, ist eine große Kraft.

Das gilt auch in der Kommunalpolitik: Ich glaube, es ist wichtig, dass sich diese Akteure mit Veränderungswillen miteinander vernetzen und ein Gefühl davon bekommen, wie kraftvoll sie sind. Außerdem ist es wichtig, die Mechanismen des Spaltens, des Emotionalisierens und des Mobilisierens auf der populistischen Seite, die alles versuchen, um Nachhaltigkeitsthemen zu diskreditieren, besser zu verstehen. Wir sind beispielsweise gewohnt gewesen, dass vernünftige Argumente gehört werden und sich am Ende auch durchsetzen. Deswegen sind wir oft auch so ohnmächtig wenn Diskurse jetzt plötzlich faktenfrei von populistischer Seite dominiert werden. Je besser wir diese Mechanismen verstehen, umso weniger laufen wir Gefahr, in bestimmte Reaktions- und Kommunikationsfallen zu tappen. Am Ende ist es klug, Angriffe gelassen ins Leere laufen zu lassen und sich auf die konstruktive Energie nach vorne konzentrieren.


Vielen Dank für das Gespräch!

Wir holen unterschiedliche Bürgerinnen und Bürger zusammen, entwickeln Zielvorstellungen und am Ende auch einen detaillierten Maßnahmenplan.